Schichtwechsel

Je nachdem, ob bergauf oder bergab gekurbelt wird, sind Körper und Geist in unterschiedlicher Weise gefordert. Während bergauf das Herz-Kreislauf-System und vorrangig Beinmuskulatur schweißtreibende Schwerstarbeit verrichten, hat der Kopf für Willenskraft zu sorgen. Sofern keine Hindernisse den Weg pflastern und der Weg einigermaßen breit ist, entfallen während dem Höhenmeterfressen keine außergewöhnlichen Denk- oder Koordinationsaufgaben. Die Nervenzellen hinter der Stirn sind kaum aktiv – das Gehirn ist auf sparsamen „Stand-by-Modus“ geschaltet. Man knetet sein Gefährt im Sitzen oder Wiegetritt mehr oder weniger stoisch bergauf und achtet allenfalls auf seinen Rhythmus oder seinen Vordermann.

Ganz anders stehen die Vorzeichen bei knackig steilen, verblockten und verwurzelten Uphills. Umso mehr, wenn sich an fiesen Stichen bei maximaler Herzfrequenz und stechender Atemnot glitschiger Schlammboden, rutschiger Wurzelzierrat, unbarmherzige Stufen und gemeine Quer- und Längsrinnen dazugesellen. Da braucht es einer ausgeklügelten Spurwahl, exzellenter Körperbeherrschung und wenn es darauf ankommt punktgenauen sensitiven wie explosiven Antritt (Schnellkraft). Hier zeigt sich, wer es am besten versteht, die Bodenstruktur (Grippverhalten) ultraschnell zu analysieren, und trotz Extrembelastung bei allen Aktionen gefühlvoll bleibt. Nur wer die Fahrbahnbeschaffenheit lesen kann und daraus die optimale Fahrlinie ableitet, kann seine Kraftressourcen selbst unter Spitzenbelastung ökonomisch einsetzen und feinfühlig Hindernisse überwinden.

Was häufig unterschätzt wird: die koordinativen Ansprüche stehen immer in Zusammenhang mit der augenblicklichen physischen Belastungsintensität. Entscheidend ist die Pulsfrequenz, mit der man sich Meter für Meter, Wurzel für Wurzel nach oben arbeitet. So betrachtet wirkt nicht die Fahrtechnik allein limitierend sondern der Belastungsgrad spielt ebenso eine wichtige Rolle. Loses Gestein, Wurzeln, Stufen/Absätze usw. erschweren neben der Steilheit des Geländes zs. den Vortrieb, was eine optimale Körperposition erfordert. Liegt der Körperschwerpunkt zu weit hinten, besteht die Gefahr, dass das Vorderrad abhebt, umgekehrt wenn der Schwerpunkt zu weit vorne liegt, rutscht das Hinterrad schneller durch. Trotzdem ist es so, dass bei zunehmender Steigung der Körper tendenziell nach vorne Richtung Lenker sich verlagert und das Gesäß auf der Sattelspitze sitzt. Wer im Wiegetritt fährt, benötigt ein sensitives Gleichgewichts- und Traktionsgefühl. Wird die akzentuierte Belastung mit feinfühliger Entlastung jedoch nicht souverän genug beherrscht ist das Fahren im Sitzen generell die bessere Alternative. Um die schwankenden Anforderungen bei unwegsamen Uphills auszugleichen (Steilheit, Hindernisse, Bodenstruktur), kommt einer cleveren Belastungssteuerung ungemein wichtige Bedeutung zu. Verschafft man sich nach kurzzeitigen Belastungsspitzen, ein wenig Luft (Pulssenkung), kommt es der Denkleistung für punktgenaue Koordination zugute. Dies untermauern auch sportwissenschaftliche Erkenntnisse, wonach koordinative Ansprüche eindeutig in Zusammenhang zur augenblicklichen physischen Belastung stehen. Demnach macht es sehr wohl einen Unterschied, ob mit einer 150 er oder 180 er Pulsfrequenz rauf gekurbelt wird, da im anaeroben Bereich die Feinmotorik leidet. Daraus folgt, dass das fahrtechnische Vermögen unabhängig vom Bike auch von Taktik, Kraft und Ausdauer abhängen.  

Wer sich über seine Ressourcen im Klaren ist, und seine Kräfte dosiert einsetzt, packt neuralgische Stellen definitiv souveräner, ansonsten muss öfter abgestiegen werden. Ein homogener Tritt- und Atemrhythmus - möglichst unterhalb der anaeroben Schwelle - ist der Schlüssel zum Erfolg, d.h. abstiegsfrei quälende, hindernisreiche Rampen zu packen. Unabhängig davon ist manchmal Schieben/Tragen trotzdem die ökonomischere Alternative, gerade wenn’s extrem steil und richtig verzwickt wird.

Bei all den Tasks bleibt ständig darauf zu achten, die Hinterhand möglichst rutschfrei zu halten. Als sei die komprimierte Aufgabenablauffolge noch nicht genug, verursacht Schrittgeschwindigkeit einen kippelig – instabilen Fahrzustand, der Ausgleichsbewegungen, Lenkeinschläge, Ausweichmanöver und geschicktes Ausbalancieren geradewegs erzwingt. Ansonsten heißt es: „Ende Gelände“. Anfahrtswinkel anpeilen, Vorderrad über Hindernisse lupfen und gefühlvoll die Pedalkraft auf den Boden bringen, damit sich das Stollenprofil bestmöglich mit dem Untergrund verzahnt. Präzision und Feingefühl ist das ein und alles, denn Meter für Meter will der Weg des geringsten Widerstands optimal getroffen sein.

Sofern keine Ausweichmöglichkeit besteht, wollen Stufen/Absätze/Wurzeln möglichst im rechten Anfahrtswinkel überwunden werden. Wer diese Grundregel insbesondere bei glitschigem Boden missachtet, verliert abrupt Traktion und wird buchstäblich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Mit schierer Kraft allein sind neuralgische Kippelstellen auf Rampen kaum bezwingbar. Neben Volllast – Drücken gehört demnach Cleverness und eiserner Wille dazu, um erfolgreiche Punktlandungen für’s Ego zu verbuchen.

Muss der Fuß widerwillig abgesetzt / abgestiegen werden, zieht schnell das Gespött seiner Mitstreiter auf sich. Will man im Sattel bleiben, ist perfektes Timing, d. h. brillantes Zusammenspiel von Geist und Körper das A & O. Steht es Spitz auf Knopf hängt der grenzwertige Vorwärtstrieb am seidenen Faden der Willenspower, die beweist wie entschlossen und kompromisslos wir uns selbst gegenüber auftreten. Permanenter Rhythmuswechsel und das Erspähen der Ideallinie kostet neben der muskulären Extremanstrengung jede Menge „Gehirnschmalz“. Dies schlaucht nicht nur körperlich mächtig, sondern verlangt nach geistiger Flexibilität. All das saugt Energie ohne Ende und leert auf Dauer den „Hirn – Akku“, was die Konzentrationsfähigkeit herabsetzt. Technische Uphills verlangen demnach genauso eine ausgetüftelte Linienwahl und Körperbeherrschung, wie anspruchsvolle Trailabfahrten.

What’s go up – that must go down – die in den Anstiegen erkämpfte potentielle Energie wird in den Abfahrten in kinetische Energie (Bewegungsenergie) umgewandelt. Oben angekommen heißt es für bevorstehende Abfahrten Kopf freimachen, optimale Fahrposition einnehmen, ggf. Teleskopstütze absenken, Druck auf’s Vorderrad bringen und besonnen, konzentriert und locker die Sache angehen. In Sachen arbeitsteiliger Aufgabenbewältigung dreht sich der Spieß von Kraftausdauer und psychischer Belastung schlagartig um. Ist der Körper aufwärts meist an der subjektiv empfundenen Belastungsgrenze nahezu ausbelastet, leitet das Gefälle einen Art Funktionsschichtwechsel ein. Vorbei die Zeit, wo das Zentralnervensystem in Sachen Konzentration nur als Erfüllungsgehilfe des Organismus „unterfordert“ vor sich hin glimmte (was natürlich nur für Forstautobahnen auf verfestigtem Untergrund zutrifft). In der Vertikalen geht der Punk ab und läutet sozusagen die neuronale Rush Hour ein.

Im Gegensatz zum Asphaltradeln genießen Biker speziell auf technischen Gefällstrecken kaum regenerative Auszeit. Praxisstudien attestieren bei Abfahrten sogar eine höhere Pulsfrequenz als dem Durchschnittspuls einer Gesamtstrecke. Die hohe Herzfrequenz ist weniger der körperlichen Belastung als vielmehr anspannungsbedingt der Wirkung ausgeschütteter Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin zuzuschreiben. Anspannung und Stressfaktoren sind es, die den Puls selbst ohne kraftraubendes Pedallieren in die Höhe treiben.

Je schwieriger der Fahrer kniffelige Streckenpassagen (z.B. Haarnadelkurven, Felsabsätze, Hinter- Vorderrad versetzen) empfindet bzw. je grenzwertiger und länger auf hohem Leistungsniveau agiert wird, desto intensiver feuern die Neuronen (Hirnleistung).

Das gleiche gilt für rasant gefahrene Trailrinnen, wo Anlieger als „erweiterte“ Fahrspur miteinbezogen werden und jeder Zentimeter Spurbreite - eingeengt zwischen Bäumen - genutzt wird, um der auftretenden Zentrifugalkraft Herr zu werden. Jede Kurve, jedes Hindernis, sowie diffuse Gripverhältnisse verlangen mentale Vorbereitung. So läuft z.B. vor jeder Richtungsänderung regelmäßig dasselbe Procedere im Kopf ab. Fahrlinie fokussieren, die Augen blicken frühzeitig in die anvisierte Fahrtrichtung, zeitverzögert dreht sich die Schulterachse, das kurveninnere Pedal verharrt in der Hochachse – um tempoangepasst, bremslösend und feinfühlig einzulenken. Wer mit Affenzahn durch’s Gehölz jagt und stilistisch astrein auf Kurs bleiben will, benötigt zweifellos ein gutes Auge, ausgeprägtes Gleichgewichtsgefühl sowie blitzschnelles Reaktionsvermögen. Nur derjenige spielt die erste Geige, der es am souveränsten versteht, die Massenträgheit Mensch und Bike im stimmigen Duett talwärts zu pfeilen. Versierte Fahrtechniker haben ihre „Traktionskontrolle“ in den Gehirnwindungen eingebaut und verfügen über ein „sensorisches“ <ABS>, in ihren Fingern. So ist z.B. die Vorderradbremse in Schräglage äußerst gefühlvoll zu bedienen. Während ein ausbrechendes Hinterrad meist kontrolliert eingefangen werden kann ist ein rutschender Vorderradreifen meist der Anfang vom Ende. Dies beweist, dass der Biker nicht nur bergauf sondern auch abwärts einer zermürbenden Mehrfachbelastung ausgesetzt ist. Einziger Unterschied: die muskuläre Beanspruchung und neuronale Aktivität variiert schwerpunktmäßig je nach herrschenden Fahrbedingungen und Neigungsverhältnissen.

Das Gehirn als Entscheidungs-, Kommando- und Kontrollzentrum hat sprichwörtlich alle Hände voll zu tun, d. h. Kopf wie Körper sind gleichsam beansprucht. Verbraucht der Muskelapparat auf Steigungen überproportional viel Energie, so verbrennen die Mitochondrien (Zellen - Kraftwerke) in Gefällabschnitten vermehrt Kohlenhydrate, um die Konzentrationsfähigkeit sicherzustellen. Gehen eingelagerte Speichervorräte zuneige drohen neben verminderter körperlichen Leistungsfähigkeit zudem Konzentrationseinbußen.

Unterzuckert durch die Botanik glühen geht schnell mit (unbemerkten) Flüchtigkeitsfehlern einher. So mutieren technisch anspruchsvolle Abfahrten bzw. hoher Speed im erschöpften Zustand zu einem unkalkulierbaren Risikofaktor, dessen Ritt urplötzlich im Crash enden kann. Da das Gelände nicht in Watte gepackt ist, wirkt die Aufprallenergie ungedämpft auf Gliedmaßen, Haut und Knochen. Bei längerer Belastungsdauer also rechtzeitig Regenerationspausen einflechten, damit sich Körper & Geist frisch resettet.